PROLOG
Freitag, 08. August 2003, 23:54 Uhr
Er parkte sein Auto an einer Engstelle des kaum befahrbaren Weges, der von der Landstraße direkt zu den alten Stollen führte. Selbst spät in der Nacht zeigte das Thermometer seines alten Jeeps immer noch 22,5 Grad. Es war der Rekordsommer seit der Wetteraufzeichnung. Tagsüber kaum auszuhaltende vierzig Grad und mehr, nachts immer noch zwanzig Grad plus. Im Radio lief ›The Ketchup Song‹ von Las Ketchup, der schon den ganzen Sommer das Land nervte. Er drehte den Zündschlüssel und stoppte somit nicht nur den Motor, sondern auch den unerträglichen Sommerhit des Jahres 2003.
Hermann Kroll, 71 Jahre alt und seit seinen 40ern zunehmend übergewichtig, wischte sich den Schweiß mit einem Taschentuch von der Stirn. Er betrachtete das Stofftuch, das er von seiner Mutter zu seinem fünfzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Es trug seine Initialen HK und erinnerte ihn an seine Eltern, an die Zeit vor seinem Unfall – an die Zeit, in der noch alles in Ordnung gewesen war. Er verdrängte den Gedanken und steckte das Tuch in die Seitentasche seiner grünen Arbeitshose. Diese oder eine andere seiner grünen Arbeitshosen trug Hermann eigentlich immer. Er mochte Beständigkeit. Er mied die Abwechslung, so auch bei seiner Kleidung.
Schwer mit sich und der Hitze kämpfend, beugte er sich über den Fahrersitz, um die Tasche aus dem Fußraum seines Jeeps zu heben. Er sparte sich die Mühe, um das Auto herumzugehen, zumal der Waldweg selbst für den schmalsten Geländewagen viel zu eng war. Rechts erhob sich der Berg, zugewachsen mit Dornen, Hecken und Farnen. Links begann der Abgrund nach unten, der im Bett des kleinen Bachlaufs endete. Von hier aus hatte er den besten Blick über das Seitental der Saar, das zwischen Eichwald und Ockhofen malerisch ins Nirgendwo führte. Das Gewässer führte zum Angelweiher und von dort aus bis in die Saar, die wiederum nach knapp zehn Kilometern in die Mosel mündete.
Kurz hielt er inne und genoss die Ruhe. Außer dem leichten Plätschern des Wassers unter ihm war es still. Er hatte noch gut zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang. Genug Zeit, um sich vorzubereiten. Er wusste, dass er hier nicht sein durfte. Nicht an diesem Ort und nicht zu dieser Zeit.
Noch einmal kontrollierte er den Inhalt seiner Tasche: Gewehr, Patronen des Großwildkaliber .22Hornet.
Die .22Hornet ist als Schonzeitpatrone einsetzbar bis etwa 120 m und bringt genügend Leistung, um auch schweres Raubwild sicher zu erlegen. Die.222 Remington ist dagegen schon fast zu stark, da bereits bei Kleinwild (wie zum Beispiel Tauben) mit größerer Wildbretentwertung zu rechnen ist. Dieses Kaliber ist zudem deutlich lauter als das .22er.
Bei optimalen Treffern kann es außerdem auch schon mal einem Rehkitz übel zurichten. Für eine Neuanschaffung einer Jagdwaffe ist die kleinste Zentralfeuerpatrone .22 Hornet das Mittel der Wahl.
- Jagdforum ›Jagdfreunde Horridoh‹
Er stellte fest, dass er alles Nötige eingepackt hatte, zog die beiden Reißverschlüsse zu und ging los.
Herrmann wusste von den tiefen Furchen im Boden, die das letzte Fahrzeug auf dem nassen Waldboden hier hinterlassen hatte, und die durch die enorme Hitze zu betonharten Spurrillen erstarrt waren. Er versuchte, die linke Spur zu halten, um so sicher den Waldweg entlangzulaufen.
Dieser Pfad wurde seit dem Ende des Krieges nur noch von Waldarbeitern oder Wanderern genutzt, die sich hierher verirrten. Weit kam man mit Fahrzeugen nicht – auch nicht mit einem Jeep.
Nach wenigen Metern, die ihm allerdings erneut den Schweiß auf die Stirn trieben, kam er an dem ersten Stollen vorbei. Hierhin war das halbe Dorf evakuiert worden, als 1944 die Alliierten Bomben über der Region abgeworfen hatten. Er erinnerte sich noch gut an die letzten Monate bis zum Kriegsende, als die entscheidenden Schlachten am Westwall nur unweit seines Wohnortes entfernt stattgefunden hatten.
Herrmann hastete weiter den Weg entlang – schließlich kannte er sein Ziel und war gewillt, bei Sonnenaufgang dort bereit zu sein, um den einen Moment abzupassen.
Er wusste, dass er sich seine Kräfte einteilen musste, und ging langsam, aber zielstrebig weiter. Als er an dem zweiten Stollen vorbeikam, machte er kurz Halt. Unter sich im Tal hörte er Stimmen. Ein lautes Lachen, dann wieder einen kurzen Moment der Ruhe, ein Schrei, Lachen, ein paar Worte …
Tagsüber war die Wanderroute als ein Teil des Jakobswegs viel besucht, aber mitten in der Nacht? Hermann wunderte sich. Plötzlich erschrak er, als ein dumpfer Schall aus der Dunkelheit zu ihm nach oben drang. Ein Sprung ins Wasser, jemand tauchte ab. Was war dort los? Wenige Sekunden später ein zweiter Wassersprung und ein Lachen.
Schnell wich seine Angst der Erleichterung, nachdem sich verschiedene Gedanken zu einem konsistenten Ganzen zusammensetzt hatten: Das Weinfest im Dorf. Der heiße Sommer. Jugendliche, die nachts eine Abkühlung im kalten Nass suchten. Er hastete weiter.
Herrmann blickte den Berg hinauf, an dessen Ende der volle Mond so hell zu ihm herunterleuchtete, dass es ihm wie in einem Film vorkam. Erst jetzt bemerkte er das offenstehende Tor in der Mitte des zugemauerten Stollens.
Irgendwann hatten sie die alten Bunkeranlagen verschlossen und Gittertüren dort angebracht, damit niemand die langen Tunnel betreten konnte. In den Neunzigerjahren hatte es hier einmal fast eine Tragödie gegeben: Ein Junge hatte sich in dem undurchsichtigen Geflecht der Tunnel verirrt und keinen der drei Ausgänge wiedergefunden, von denen einer sowieso schon seit Kriegsende zugeschüttet war. Man hatte den armen Teufel nach dreitägiger Suche bewusstlos gefunden – fast verdurstet – im hintersten Teil des dunklen Schieferstollens. Der Hinweis eines Schulfreundes hatte damals nur knapp eine Katastrophe verhindert.
Die beiden bis dato offenen Stolleneingänge waren infolgedessen mit Gittern verschlossen worden. Sie waren fortan nur noch für Fledermäuse zugänglich, die auch jetzt um ihn herumflogen und im hellen Mondlicht wie riesige schwarze Schmetterlinge wirkten.
Herrmann wunderte sich über das offenstehende Tor. Er erinnerte sich an einen Artikel in der Saar-Mosel-Zeitung, die von einem neuartigen Trend berichtete, nach dem zurzeit viele bei einer Art digitalen Schnitzeljagd Höhlen und abenteuerliche Plätze in der Region erkundeten …
Geocaching etablierte sich um die Jahrtausendwende als eine Art Schatzsuche, bei der anhand geografischer GPS-Daten sogenannte ›Caches‹ versteckt werden, die von Usern anhand angegebener Koordinaten (oft auch mit Rätseln und Aufgaben versehen) gesucht werden.
Er verwarf den Gedanken und ging weiter. Nur noch wenige hundert Meter, und er würde den alten Hochsitz erreichen, von dem aus er den besten Blick über das Tal, den See und die Berge hatte. Bei schönem Wetter konnte man hier bis nach Frankreich sehen. Wenn man es wusste, entdeckte man sogar den Dampf der Kühltürme vom grenznahen Atomkraftwerk in Cattenom.
Er kannte den Weg und den Ansitz nur zu gut, hatte er doch selbst vor 15 Jahren hier offiziell jagen dürfen. Das Gerüst hatte er zusammen mit seinem Jagdfreund Paul Becker geplant, gebaut und aufgestellt. Damals hatten die Saarsteins die Pacht rund um Eichwald innegehabt. Das Jagen gehörte schließlich zum guten Ton alter Adelsfamilien.
Jetzt – 15 Jahre später – war die Jagd an reiche Luxemburger verpachtet, die mit ihren noch reicheren Bänkerfreunden am Wochenende ihren Trieben nach Überlegenheit und Tötungslust nachgingen. Ohne Rücksicht auf die Natur. Ohne Kenntnis wichtiger ökologischer Balancen in der Flora des Waldes. Er, Hermann Kroll, war kein Jäger, der beim Schießen von jungen Rehen Lust empfand. Er tötete, um die Population zu regulieren. Er tötete, um kranke Tiere von ihrem Leid zu erlösen und er genoss die meditative Ruhe des Eichenwaldes rund um seine Heimat. Nur er und die Natur. Ein vollkommener Moment der Zufriedenheit. Weit abseits des Alltags und des sich verändernden Lebens des neuen Jahrtausends.
Doch bevor Hermann auf seinen Hochsitz steigen und sich dort auf die Dämmerung einstellen konnte, ließ ihn ein lauter Knall zusammenfahren. Eine Explosion mitten im Wald, gegenüber vom Hochstand, keine 200 Meter Luftlinie entfernt.
Es kam von dem Chalet der Familie von Saarstein. Dies war Herrmann direkt klar. Er musste schnell weg. Schnell zu seinem Auto.
Er hörte eine Stimme qualvoll aufheulen. Ob männlich oder weiblich, konnte er nicht feststellen. Im Schmerz waren alle gleich. Im Schmerz und im Tod.